Text · Nachruf von Axel Kahrs · 2

Fortsetzung 1

Durststrecken
Aber die hatte es lange schwer. Helga Weyhe, die all die Last der „großen» Geschichte im kleinen Abseits zu tragen hatte, sprach darüber Klartext, für sie kamen zuerst die „Braunen», dann die „Roten» an die Macht, beide keine Bücherfreunde, keine Leser, keine Verfechter des freien Wortes. Sie sprach erbost von einer langen „Durststrecke» für die privat geführte Buchhandlung, und man ahnt, was damit gemeint war. Dennoch, mit einer Ausrichtung ihres Bücherangebotes auf Literaturklassiker und wissenschaftliche Fachbücher sowie einem kleinen Antiquariat überlebte sie die Jahre der deutschen Teilung. Dabei half ihr seit 1972 der sogenannte „kleine Grenzverkehr», der westdeutsche Besucher aus dem nahen Wendland zuließ, für Helga Weyhe ein „kleines Loch in der Mauer», denn der Zwangsumtausch führte die Tagesgäste in ihren Buchladen, wo das Geld sinnvoll angelegt werden konnte. Sie praktizierte damit eine Art vorweggenommener Wiedervereinigung vor Ort. Es war einer der Grundsteine für den nach 1989 folgenden Aufstieg der Salzwedeler Buchhandlung Weyhe in die imaginäre Ruhmeshalle der Bücherwelt. Um Helga Weyhe herum veränderte sich mit der Wende grundlegend ihre Straße, ihr Viertel, ihre Stadt, ihre altmärkische Heimat, ihr Land, auch das Buchangebot, auch ihre Kundschaft und deren Kaufinteressen – aber sie blieb, wie sie war. Wo nebenan Glanz und Glitter einzogen und die Technik alles umkrempelte, schien ihr Geschäft wie in einen Dornröschenschlaf gefallen zu sein, und auch die Besitzerin verzichtete weiterhin auf modische Assessoires und Schnickschnack. Bald bemerkte man das Gradlinige, Eigenwillige und auch Gültige in diesem Dasein einer tapferen Frau, die sich treu geblieben war. Geprägt von den dunklen Jahren, konsequent und entschieden, aber keineswegs rückwärtsgewandt, begegnete sie der neuen Welt des schnellen, tagesaktuellen Buches auf ihre Art. Bei ihr gab es keine Krimis, wenig Bestseller, kaum Taschenbücher, dafür solide Klassikerausgaben, Kulturgeschichte und Kinderbücher. Am Tresen lagen ihre Lieblingswerke, man tat gut daran, eines davon mitzunehmen: Erika Manns „Stoffel», die Werke der „frechen Frauen» von damals: Irmgard Keun, Alice Berend und Gabriele Tergit, oder Erich Kästners Bücher.
Der Erfolg blieb nicht aus, mehr und mehr gaben sich die Kunden die Klinke in die Hand, Helga Weyhes Ruf ging bald weit über die engeren Grenzen hinaus, es kam die Prominenz aus der Politik, wie der ehemalige Kultusminister Niedersachsens, der Altmärker Rolf Wernstedt, später Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Haseloff, der einen Stapel Bücher in den Dienstwagen lud, die Schriftsteller wie der in Salzwedel aufgewachsene Romancier Reinhard Jirgl, oder der in die neue Buchmarkt-Zeit helfende Kollege Martin Schmorl aus Hannover.

Ein reiches Leben
Das ansteigende Interesse an der nunmehr ältesten aktiven deutschen Buchhändlerin wuchs sich langsam zur Medienwelle aus. Im letzten Lebensjahrzehnt berichteten die Feuilletons aller großen Zeitungen und Zeitschriften von der Süddeutschen und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, dem SPIEGEL und der ZEIT, die TV-Sender ARTE und MDR sowie der Deutschlandfunk ausführlich in Reportagen, Porträts und Interviews über Helga Weyhe. Bei You Tube gibt es ein sehr persönliches Video, mehrere Bücher und Broschüren nahmen sie in ihre Themen-Reihen auf. Die Buchhändlerin sah alles eher gelassen, aber freute sich doch im Stillen, ebenso über die 2012 verliehene Ehrenbürgerschaft der Stadt Salzwedel zum 90. Geburtstag, die ihre Einwohnerin wegen ihrer „inspirierenden Art» auszeichnete und einen Ginkgo ihr zu Ehren pflanzte. Die Inspiration lag in der jahrelangen Förderung von Literatur. Die Bücherei und das Kunsthaus erhielten Unterstützung, Helga Weyhe finanzierte Lesungen wie die vom Literaturwissenschaftler Rolf Vollmann oder dem späteren Büchner-Preisträger Reinhard Jirgl.
Für die an Kunst interessierte Buchhändlerin gab es zugleich nach 1989 viele Gelegenheiten, ihren Neigungen und Interessen frei nachzugehen. Sie war Gast bei der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels in der Frankfurter Paulskirche, flog erneut in die USA und nach Israel, fuhr zum Jahresfest des renommierten Beck-Verlages, genoß die Sommerlichen Musiktage in Hitzacker und freute sich über den Besuch der Exkursionsteilnehmer der Musikwoche Hitzacker in ihrem Laden. Sie reiste mit Freundinnen und Freunden nach Berlin auf die Museumsinsel oder nach Gardelegen zur Gedenkstätte Isenschnibbe, hatte Freude an den Lesungen im benachbarten Künstlerhof Schreyahn. Es war – auf der Zielgeraden – ein erfülltes, reiches Leben. Mit ihrem profunden Wissen aus neun durchlebten Jahrzehnten war sie auch immer wieder Anlaufstelle oder Auskunftei für Historiker, Regionalwissenschaftler, Familienkundler und Archivare, Chronistin für jüdisches Leben der Stadt, Kirchenkunde und Schulgeschichte(n). Einmal seufzte sie: „Wenn ich mal nicht mehr bin, wird es hier in der Stadt ein ganz schön großes Wissens-Loch geben», und in ihrem Schaufenster hing lange ein Denk-Zettel: „ach ich werde mir doch mächtig fehlen, wenn ich einst gestorben bin.» So war es ein sorgfältig bedachter, letztlich an Corona gescheiterter Plan Helga Weyhes, den Schriftsteller Ingo Schulze 2020 nach Salzwedel einzuladen, der in seinem letzten Roman die Nöte und Verirrungen eines Buchhändlers als Langzeitfolgen der Fehler aus der Zeit der Wiedervereinigung schildert – Helga Weyhe wusste schon, was sie tat.
Das Gedächtnis der Stadt Salzwedel ist nun für immer verstummt, in der stillen, dunklen Buchhandlung steht ihr leerer Stuhl. Ein japanisches Sprichwort sagt: Wenn ein Mensch stirbt, dann ist es so, als ginge eine Bibliothek in Flammen auf.

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Axel Kahrs (Lüchow/Salzwedel)
publiziert in Altmark-Blätter, Ausgabe 9. Januar 2020

© Axel Kahrs / Leerer Stuhl von Helga Weyhe, 2021

Altmark-Blätter / Axel Kahrs: Geburtstaganzeige für Helga Weyhe / 11. Dezember 2020  ·  PDF-Download (2-seitig) | Altmark-Blätter / Axel Kahrs