Text · Nachruf von Axel Kahrs · 1

Salzwedels Gedächtnis und Vermächtnis –
Zum Tod der Buchhändlerin Helga Weyhe
(11. Dezember 1922 – 4. Januar 2021)
Axel Kahrs

© Axel Kahrs / Portrait Helga Weyhe, 2020

Wer als Kunde oder Gast die Eingangstür von «I.D. Schmidt’s Buchhandlung» in Salzwedel öffnete, hörte zunächst nur ein helles Klingeln. Der Verkaufsraum, in dem alle Regale und Tische voll gestellt waren mit Büchern und Karten, schi­en leer. Doch schon kehrte sich im angrenzenden Büro ein Drehstuhl um und das Gesicht der dort am Schreibtisch arbeitenden Buchhändlerin Helga Weyhe schaute neugierig durch die stets offene Tür auf den Besucher. Es war in den letzten Jahren gut, wenn man ihr laut und deutlich mit der Begrüßung auch den eigenen Namen zurief, denn zunehmend taube Ohren, nachlassendes Augenlicht und ein schwächer werdendes Herz schränkten den Radius der Buchhändlerin mehr und mehr ein: «Immer enger, / leise, leise, / ziehen sich die Lebenskreise» – sie hörte dieses Altersgedicht des geliebten Fontane gern und nickte zustimmend.
Doch weiterhin führte die disziplinierte Preußin das Geschäft, stand am Tresen hinter der Kasse, lud gern zum Gespräch in ihr hinteres Büro. Sie war ganz für den Kunden da: «Was lesen Sie gerade, was halten Sie von dem Autor? Gibt es neue gute Bücher? Welche Titel raten Sie mir?» So blieb sie auch im hohen Alter hellwach, belesen, neugierig und – oft überraschend – auch schalkhaft. Euphorie, Begeisterung oder Jubelgesang lagen ihr nicht. Als sie 2017 im Schloss Herrenhausen von Hannover den Ehrenpreis des Deutschen Buchhandels aus der Hand von Kulturministerin Monika Grütters bekam, wurde sie als «Grande Dame des deutschen Buchhandels» tituliert. Die mehrere hundert zählende Buchhändlerschar im Saal bereitete ihr Minuten lang eine standing ovation, sie aber blieb gelassen: «Das war doch mal was, oder?» – kommentierte sie ihre hohe Auszeichnung.
Unwiederbringlich
Der Preis kam nicht von ungefähr, denn Helga Weyhes Leben, das nun ein stilles Ende fand, war in seinem unspektakulären, fast monotonen Verlauf ein einmaliges, unwiederbringliches Dasein im Wechselbad deutscher Geschichte an der Grenznaht zwischen den Provinzen Preußens und Hannover, den NS-Gauen Magdeburg-Anhalt und Ost-Hannover, den Ost- und Westbesatzungszonen, der DDR und der Bundesrepublik. Es fand seinen glücklichen Abschluss durch ein zuletzt wiedervereintes Deutschland, das Helga Weyhe unverhofft weitere dreißig Jahre einer gesicherten und freien Existenz im eigenen Haus schenkte.
Doch vorher kamen für sie schwierige, so nicht erwartete Jahre. Der Großvater hatte 1871 die Buchhandlung erworben, die dann bis zuletzt im Besitz der Familie blieb, seit 1880 mit Sitz in der Altperverstraße 11, dem Geburtshaus von Helga Weyhe. Die Tochter wuchs im ersten Stock über der Buchhandlung auf, sie reiste nach Frankreich und dreimal nach Italien, stand staunend in Rom auf dem Forum, «wo schon Caesar stand», sah Florenz, Venedig, Capri, Neapel. Das Germanistik-Studium in Breslau, Königsberg und Wien brachte ihr aber nur eine «solide Halbbildung», weil die Familie sie brauchte und 1945 zurückrief. Sie folgte ohne Zögern und blieb für immer, ab 1965 als Leiterin des Geschäfts. Lediglich die Reise nach New York zum berühmten Galeristen Erhard Weyhe, ihrem Onkel, war 1985 möglich, erst dann war sie «mauermündig», wie sie bitter bemerkte. Wer sich in ihrer Buchhandlung umschaute, sah überall die Erinnerungsstücke an die Vergangenheit, ein Straßenschild 794 Lexington Ave., den Stadtplan von New York, die Schwarz-Weiß-Porträts der Weyhe-Familie im Schaufenster und im Büro – alles vor einer seit 1880 weitgehend so belassenen Einrichtung des Verkaufsraumes aus schlicht braun gestrichenen Holzregalen – ein nun «antiquarisch» gewordenes Ambiente. Lediglich an der Hausfront kam ein kupfernes Ladenschild mit der Eule als Symbol dazu, im Bürgersteig lud zuletzt auch ein Plattenmosaik mit ihrer Initiale – W – in die geistige Welt der Bücher.

Nachruf-Fortsetzung (Teil-2/Ende)

Axel Kahrs (Lüchow/Salzwedel)
publiziert in Altmark-Blätter, Ausgabe 9. Januar 2020

© Axel Kahrs / Helga Weyhe Portrait in Nachruf, Altmark-Blätter, 09.01.2021  © Christiane Beyer (by) / Nachruf betr. Helga Weyhe, Elbe-Jeetzel-Zeitung, 09.01.2021  © Axel Kahrs / Geburtstagsanzeige in Altmaärk-Blätter Helga Weyhe, 11.12.2020 — inkl. Gedicht Frei nach Anne Vegter

PDF-Download (2-seitig) | Altmark-Blätter / Axel Kahrs

Beitrag: Axel Kahrs, Scrittore e storico della letteratura | Altmark-Blätter / Traduzione di Maria Gregorio