Trauerrede-Beitrag Ute Lemm

© Gudrun Schwarz / Portrait Helga Weyhe

Liebe Gäste dieses Trauergottesdienstes für meine Großtante Helga Weyhe!
 
Als Enkelin von Helgas älterer Schwester Ingeborg ist es für mich eine große Ehre, hier über das Leben meiner «Tante Helga», wie ich sie immer genannt habe, zu sprechen. Aber wie soll ich in wenigen Minuten fast einhundert Lebensjahre zusammenfassen – voll von Geschichten: Frauengeschichte, Buchhandelsgeschichte, deutsche und europäische Geschichte, Stadtgeschichte, Familiengeschichte.
 
Sie kennen wichtige Daten über Helga Weyhe: Geboren 1922, Abitur am Lyzeum 1941, einige Studiensemester in Deutsch, Geschichte und Geographie in Breslau, Königsberg und Wien, ab 1945 dann gemeinsam mit dem Vater, der Mutter und der Schwester als Buchhändlerin im familieneigenen Geschäft tätig, das sie 1965 allein übernimmt. Und wo sie bis zu ihrem Tod arbeiten wird. Helga Weyhe engagiert sich für ihre Heimatstadt Salzwedel und wird anlässlich ihres 90. Geburtstages zur Ehrenbürgerin ernannt. Fünf Jahre später erhält sie als älteste deutsche Buchhändlerin den Ehrenpreis des Deutschen Buchhandlungspreises der Bundesregierung.
 
Sie alle werden Ihre sehr persönlichen Erinnerungen an diese außergewöhnliche Frau haben. Ich möchte Sie gern an einigen von den Dingen teilhaben lassen, die für mich als Großnichte in der Erinnerung an Tante Helga eine besondere Bedeutung haben.
 
Da sind zuerst Fotos von 1926 oder 1927. Mit ihrem hellen Lockenköpfchen und den kleinen Händen tief vergraben in den Taschen ihrer kurzen Hose schaut die etwa vierjährige Helga sehr aufrecht und mit direktem, fast herausforderndem Blick selbstbewusst in die Kamera. Dass keiner erfolgreich angeordnet hat, sie möge mal die Hände aus den Taschen nehmen beim Fotografieren! Herrlich. Mich freuen diese Bilder. Und kaum zu glauben, dass sie in ihren ersten Lebenswochen ein sehr schwächliches Neugeborenes gewesen sein muss, weshalb der Arzt bei jedem Besuch im Hause Weyhe bang fragte, ob sie denn noch am Leben sei?
 
Dann ist da die Erinnerung an eine gemeinsame kleine Autotour vor vielleicht zehn Jahren – nach Schreyahn und Woltersdorf und Lüchow, und plötzlich habe ich eine Idee davon bekommen, was es für sie bedeutet haben muss, endlich wieder auf diesen Wegen ihrer Jugend unterwegs zu sein. Und nie werde ich vergessen, mit welchem Stolz sie mich später durch das restaurierte Lyzeum, das neue Salzwedler Kunsthaus, geführt hat.
 
Überhaupt: Ihre Reiselust. Der Hinweis auf ihren Cousin Arthur Weyhe in New York, den ich 1995 in seinem Atelier besuche. Und ihre Hinweise auf die deutsche evangelische Gemeinde in Rom – über die ich dann tatsächlich 1996 ein Zimmerchen für meine eigenen römischen Wochen gefunden habe. Und Tante Helga sorgt auch dafür, dass wir uns mit unserem Großcousin Dennis Kiley 2010 in derNähe von San Francisco treffen.
 
In ihrem Nachlass haben wir ein Kästchen mit Muscheln aus aller Welt gefunden, die sie – jede einzeln – beschriftet hat: Ostia 1951, New York 1988, Scharbeutz 1997 – und Tel Aviv 1999. Seit 1990 war sie wieder mit ihrer Schulfreundin Esther Bacharach in Kontakt, die 1936 noch rechtzeitig das nationalsozialistische Deutschland verlassen hatte. 63 Jahre später reist Helga Weyhe nach Tel Aviv und besucht ihre nur wenige Tage jüngere Jugendfreundin. Esther Bacharach, verheiratete Feiner, hat mir vor einigen Tagen geschrieben, dass sie die Gespräche mit ihrer Freundin Helga sehr vermisst. Danke für Ihre Zeilen, liebe Esther Bacharach.
 
Helga Weyhe war mit vielen Menschen in guten, intensiven Gesprächen. Zu uns, der Familie, den Nachkommen, hat sie durchaus Abstand gehalten – «Familie ist gut, muss aber weit weg leben», so wird sie zitiert. Sicher schwingen da ihre ersten 35 Lebensjahre mit, die sie gemeinsam mit den Eltern Walter und Elsa, der Schwester Ingeborg, anfangs mit dem Großvater Heinrich, später mit den beiden kleinen Nichten Ingrid und Sibylle und sie selbst ganz hinten, im kleinen Zimmer hinter dem Schlafzimmer der Eltern, in der Wohnung über dem Laden verbracht hat.
 
Ich glaube, über wenige Menschen kann man so klar sagen, dass sie, trotzdem sie den größten Teil ihres Lebens allein gelebt haben, nicht einsam gewesen sind. Und für Tante Helga gilt das natürlich nicht nur, weil sie ihre Bücher und ihre Buchhandlung hatte. Auf ein Lesezeichen ließ sie einen Satz von Voltaire drucken: «Lesen weitet die Seele, aber ein guter Freund tröstet sie.» Viele Freunde und gute Bekannte müsste ich nun aufzählen. Verzeihen Sie, wenn ich darauf hier verzichte. Ich finde es tröstlich, dass wir heute Tante Helga in einer Urne zur letzten Ruhe betten dürfen, die eine ihr freundschaftlich zugewandte Töpferin angefertigt hat. Danke, Helga Geissler!
 
Helga Weyhes Lebensweg hat sich dort gerundet, wo er seinen Anfang genommen hat – in der Altperverstraße hier in Salzwedel. An einem Montag im Advent ist sie auf die Welt gekommen, an einem Montag in der Weihnachtszeit hat sie sich von der Erde verabschiedet. Dazwischen liegt ein intensives, erkämpftes, eigenständiges, selbstbewusstes Leben – das Spuren in uns hinterlässt. Danke, Tante Helga.
 
Trauergottesdienst für Helga Weyhe in St. Marien, Salzwedel, 12. Februar 2021 /
Beitrag von Dr. Ute Lemm, Rendsburg. Es gilt das gesprochene Wort.