Trauerrede-Beitrag Axel Kahrs

© Gudrun Schwarz / Portrait Helga Weyhe

Liebe Familie, liebe Freunde und Wegbegleiter von Helga Weyhe,
verehrte Trauergemeinde,
 
die deutsche Geschichte, voll an bitteren Momenten und dunklen Stunden, hat das 98 Jahre währende Leben von Helga Weyhe hart und oft bedrückend geformt. Um so bewundernswerter ist es, dass diese bescheidene, tapfere Frau es geschafft hat, ihrem Lebensweg eine eigene Richtung zu geben, die Respekt und Würdigung, ja unsere Hochachtung verdient. Ihr Schicksal hatte im Kriegsjahr 1945 einen Scheitelpunkt erreicht. Sie kehrte damals vom Studium ohne Klagen zurück nach Salzwedel, um dort mit ihrer Familie, aber alleinstehend und kinderlos bis zu ihrem Tod, immer im selben Haus, immer im selben Beruf zu wirken: 75 Jahre lang. Wie der antike Gott Janus, der sowohl in die Vergangenheit als auch in die Zukunft blicken konnte, war ihr am Kriegsende klar, dass es kein Zurück, aber auch kein «weiter so» geben würde. Ein weiteres Studium? Breslau, wo sie sich zuerst eingeschrieben hatte, war noch im Mai ‘45 zur «Festung» erklärt und unter unsäglichen Menschenopfern vollständig zerstört worden, Königsberg, wohin sie dann wechselte, war als Stadt ausgelöscht, und Wien, wo sie zuletzt studierte, lag in Trümmern, viergeteilt in Besatzungszonen – alles wüste Stätten wie auch Halberstadt oder Magdeburg in der Nähe Salzwedels, wo der auf Jahrzehnte trennende «Eiserne Vorhang» mitten durchs Land niederging.
 
Im Schatten dieser Katastrophen lebend, gerieten Helga Weyhe die Bücher als sichtbare Zeugnisse der Literatur und Sprache mehr und mehr zum Lebensmittelpunkt. In ihnen fand sie Fülle und Vielfalt, Schönheit und Trost, Traum, Ermutigung und Aufbruch in andere Welten, alles, was ihr im realen Leben versagt blieb. Denn nur anfangs waren ihr noch Ausbrüche gegönnt, mehrere Reisen führten auf eigene Faust nach Italien, auf Goethes Spuren, wie es schon ihr Vater gemacht hatte. Aber dann kam die lange Durststrecke, fast vier Jahrzehnte blieb sie im Abseits des Kalten Krieges, in einer amputierten Stadt ohne Hinterland. Helga Weyhe blickte 2012 in einem Interview zurück: «Am schlimmsten war es, als man nicht mehr merkte, dass man eingeschränkt war» und: «Ich wollte nur schnell alt werden, um ‹mauermündig› zu werden und reisen zu können» – eine in ihrer Tragik erschütternde Aussage. Aber sie blieb, hielt durch, privat und beruflich.
 
Ihre Buchhandlung war dabei nie nur eine Verkaufsstelle von bedrucktem Papier, sondern wurde mehr und mehr Ausdruck ihres Denkens und Fühlens. Wir können heute, wenn wir uns an die Besuche bei ihr erinnern, über die Buchauswahl der Verstorbenen ganz nahe kommen. Denn wer bei ihr eintrat, sah auf dem Regal an der Tür zunächst die Bücher zur Stadt Salzwedel, zur Altmark und ihren kulturellen Schätzen, zu den Kirchen und Schlössern, auch zu den Persönlichkeiten, zu denen der hier geborene Historiker Friedrich Meinecke zählt, bei dem sie nach dem Krieg noch zum Essen eingeladen war. Helga Weyhe war so eine reine Preußin bester Prägung, ohne Rohrstock und Zopf, aber mit der inneren Haltung und dem Bewusstsein von Pflicht, Recht und Aufrichtigkeit. Tanzstunden, literarische Salons, Liederzirkel, Schunkelrunden – das alles lag ihr nicht. Und das spiegelte auch ihre Auswahl der kulturgeschichtlichen Sachbücher im Fenster und an der Regalwand gegenüber wider. Sie liebte die Lebensläufe, Porträts und Briefe deutscher Frauen und Männer, die sich treu blieben und so ihr und uns etwas zu sagen hatten. Neben Werken zu historischen Ereignissen und kulturellen Glanzleistungen standen die Klassiker der deutschen Literatur, ich erspare uns die bekannten Namen. Nur einer ist zu nennen, von dem Helga Weyhe sagte: «Fontane kann ganz einfach schreiben, und einfach ist das Schwierigste.» Hier, wie auch in der überraschend großen Kinderbuchabteilung ging von den Regalen – die selbstredend auf eine alphabetische Ordnung verzichteten – ein stilles Signal aus, das die Buchhändlerin gezielt an die Kunden weitergab. Was sollte da ein großformatiges Kinderbuch über Kanarienvögel, die nach Amerika exportiert werden und dort gleich wieder anfangen, ihre Heimatweisen zu zwitschern? Warum lag da ein Buch mit dem Titel «Der Draht von Alexander» über einen Jungen, der aus Draht Figuren bog? Es war der später weltberühmte Künstler Alexander Calder, dem wir die Erfindung der «Mobiles» in der Kunst verdanken. Seine erste Ausstellung hatte er in New York in der Galerie von Helga Weyhes ausgewandertem Onkel Erhard, ihm widmete Calder aus Dank wiederum ein Draht-Porträt, das nun in den Museen Amerikas gezeigt wird.
 
Und dann die Bücher an der Kasse: Hier schlug das Herz der Leserin Helga Weyhe, es waren Frauenbücher, von Frauen, über Frauen, für Frauen, wie Isabel Hamer mit ihrem heute vergessenen «Perdita»-Roman über ein Waisenkind in England. Es waren Erzählungen über junge, freche, ungebändigte, unangepasste Menschen, die das machen wollten, was ihr, Helga Weyhe, versagt blieb, von Autorinnen der Weimarer Republik wie Irmgard Keun etwa, Alice Berend, Gabriele Tergit oder Judith Kerr mit ihrem rosa Kaninchen, viele von ihnen jüdischer Herkunft wie Helga Weyhes Jugendfreundin Esther Feiner, geborene Bacharach. Beide erkannten sich beim Wiedersehen 1999 in Israel sofort am Haar, erinnerte sich Helga Weyhe: die eine blond, die andere schwarzgrau – dachte sie dabei an Celans «Todesfuge» mit der Zeile «Dein goldenes Haar Margarete – dein aschenes Haar Sulamith»? Es bleibt ihr Geheimnis.
 
An der Kasse lagen auch die Geschichten berühmter Buchhandlungen wie Helen Hanffs «84 Charing Cross Road» über die Freundschaft zu einem Londoner Buchhändler, und nicht zuletzt Erika Mann, die Thomas Mann-Tochter, die nach Amerika fuhr und dazu das Buch «Stoffel fliegt übers Meer» schrieb. Es ist die Abenteuergeschichte eines Jungen, der sich als Blinder Passagier in einen Zeppelin einschleicht und es so zum Onkel in New York schafft: Fast jeder, der zum ersten Mal in die Buchhandlung eintrat, kaufte ein Exemplar, oft von Helga Weyhe signiert. Diese Buchtitel holten die weite Welt und die Familiengeschichte zugleich in die Altperverstraße, sie blieben oft über Jahre hinweg auf ihrem angestammten Platz. Als Helga Weyhe die sündhaft teure mehrbändige Ausgabe von Ingeborg Bachmanns «Todesarten» ins Regal stellte – kein westdeutscher Buchhändler hätte das getan! – kam ihr Kommentar: «Jedes Buch findet einmal seinen Käufer!» – und es geschah so. Ingeborg Bachmann lebte wie Helga Weyhe lange Zeit in Rom und liebte diese Stadt, in Salzwedel blieb man ihr treu, aus gutem Grund. In einem Gedicht von Anne Vegter heißt es über die Buchhändlerin: «Sie nennt einen Autor aber eigentlich weckt sie ein Verlangen / Sie zeigt auf Regale aber eigentlich sind es Horizonte.» So wurde Helga Weyhes Buchangebot ein Abbild ihrer Lektüren und Dichterlieblinge, aber auch ein Spiegel ihrer Sehnsüchte, die sie sich – trotz später Reisen nach Israel und Amerika – nicht erfüllen konnte. Aber in ihren Büchern durfte sie nachlesen und träumend, gedankenverloren oder wissensdurstig aufsaugen, was ihr das reale Leben nicht bot. Als 1990 die Grenze aufging, sagte sie einmal im Gespräch «endlich kann ich das anbieten, was ich will», heute wissen wir, dass die Betonung anders lautete: das ich stand vorn.
 
In der Traueranzeige der Familie Weyhe findet sich ein Zitat von Kurt Tucholsky (aus dessen Gedicht «Media in vita» von 1931), das als Denkzettel im Schaufenster der Buchhandlung zu Recht immer wieder bestaunt wurde: «Ach, ich werde mir doch mächtig fehlen, wenn ich einst gestorben bin.» – «Andern auch – ?», fragt die nächste, nicht zitierte Zeile. Ja, möchte man rufen: Sie fehlen uns, Sie fehlen uns mächtig, liebe, verehrte, schmerzlich vermisste Helga Weyhe!
 
In einem einfühlsamen Videoporträt steht sie vor ihrem Buchregal im privaten 1. Stock und zeigt ihre Schätze: «Das hier ist die ‹Maculaturalia›» (1896), sagt sie fast beiläufig, und doch war es ihr ein wichtiges Buch. Der Verfasser Julius Haarhaus, Buchmacher und Leser und Italienreisender wie sie, beschreibt darin einen Buchhändler, der abends in seinem Laden einschläft und träumend miterlebt, wie in allen Regalen die Bücher und ihre in ihnen beschriebenen Figuren lebendig werden, ein Band flüstert: «Du musst wissen, dass wir alljährlich in der (Dezember-) Nacht … eine große Versammlung abhalten, eine Art Familienfest, ehe wir auf Nimmerwiedersehen voneinander Abschied nehmen und in alle Welt hinaus müssen.» Und weiter : «Die Uhr … schlug Mitternacht, und in allen Fächern begann es sich zu regen. Schwerfällige Folianten stiegen bedächtig die Leitern hinab, leichtere Quartbände wagten den kühnen Sprung zum Fußboden und Oktavbände ließen sich reihenweise aus den Regalen zur Erde niederpurzeln» – unter ihnen die Figuren des Don Quichotte, Peter Schlemihl und der «bezauberten Rose». Helga Weyhe mochte diese märchen- und zauberhafte Stimmung in der Erzählung sehr. Ich bin mir daher sicher: In der Nacht zum 4. Januar 2021, als sich ihr Lebenskreis über der Buchhandlung in den Räumen schloss, in denen sie geboren wurde – in dieser Nacht-Stunde stiegen alle ihren kleinen und großen Romanhelden, ihre geschätzten Mädchen- und Frauenfiguren gemeinsam mit dem «Stoffel» aus den Regalen der alten Salzwedeler Buchhandlung und bildeten zusammen einen festen, schützenden Kreis um ihre geliebte Buchhändlerin. Helga Weyhe schlief so für immer ein und ist nun ganz in ihrer Bücherwelt, in der freien Sphäre des Geistes, der Kreativität und der Vernunft. Keine Streitereien, keine Diebereien, keine gesundheitlichen Sorgen können sie mehr erreichen, sie ist angekommen und wunderbar geborgen.
 
Trauergottesdienst für Helga Weyhe in St. Marien, Salzwedel, 12. Februar 2021 /
Beitrag von Axel Kahrs, Lüchow.

 
 
 
«Das Geheimnis der Buchhändlerin Helga Weyhe»
(frei übertragen nach einem Gedicht der Lyrikerin Anne Vegter, Niederlande;
Lesefassung, am Grab vorgetragen)
 
Sie verkaufte Bücher aber eigentlich reichte sie Liebe weiter
Sie gab Ratschläge aber eigentlich öffnete sie Fernsichten
Sie war eine Insel aber eigentlich verkaufte sie Rettungsleinen
Sie nannte einen Titel aber eigentlich teilte sie Flügel aus
Sie nannte einen Autor aber eigentlich weckte sie ein Verlangen
Sie zeigte auf Regale aber eigentlich waren es Horizonte
Sie verkaufte Bücher aber eigentlich erzählte sie Geschichten